Latz-Rocky 08.03.2009 18:21
Ich machte kurz die Augen zu, nicke einen Moment lang ein und war kurze Zeit später wieder wach - hellwach und ich konnte einfach für den Moment nicht mehr einschlafen. In Gedanken gingen mir die vielen Erlebnisse der letzten Tage und Wochen nochmal durch den Kopf. Was Klamotten angeht, war ich schon von jeher etwas eigenwillig – aber im positiven Sinne. Ich liebte es praktisch, schlicht, einfach und preiswert – während manche schon im Kindergarten in den – aus meiner Sicht – unpassensten und teuersten Sachen erschienen.
Ich war da anders, vor allem – ich brauchte nicht viel. Und erst recht nicht teuer. Neu musste es auch nicht immer sein. Ob es Angst vor Mama war, was teures beim Spielen kaputt zu machen oder ob ich es genoss, dass ich das Geld für andere – sinnvolle – Dinge ausgeben konnte, ich weiß es nicht. Ich war einfach so, und was die anderen sagten, störte mich eigentlich recht wenig. Aber so im Nachhinein betrachtet war Tag, an dem ich meine Kunstlederlatzhose zum ersten Mal in der Schule an hatte, doch echt hart.
Frauke hatte mich ja schon vorgewarnt, aber an dem Tag hätte ich doch wirklich besser was anderes angezogen. Es fing schon vor der ersten Stunde an, dass ein paar wenige Jungs mich häselten. „Guck mal, wie läuft die denn rum“ war noch das harmloseste, was ich zu hören bekam. „Jetzt fängt die aber völlig an zu spinnen – sowas trägt doch kein Mensch mehr.“ Sie riefen „Baby, Baby, Baby“ – wobei ich „Babe“ ja noch cool gefunden hätte. Andere Jungs aus meiner Klasse schauten mich hingegen total süß an und fragten ob sie mal anfassen dürften...
Am schlimmsten war jedoch das Umziehen vor der Sportstunde: 15 kreischende Mädels im Chor „Zieht der Sandra die Lederhose aus, Lederhose aus, Lederhose aus...“ Und schon versuchte das erste Mädel mir die Schnallen vom Latz loszureißen. Ich konnte gerade eben noch auf die Toilette flüchten, wo ich mich heulend einschloss. Sowas hatte ich noch nie erlebt. Ich hatte ja schon öfters mal was ausgefallenes zur Schule an, aber sowas war noch nie vorgekommen. Das war echt die Hölle.
Als der Sportunterricht begann saß ich immer noch heulend auf dem Klo. Meine Sportlehrerin kam in die Umkleidekabine und brüllte mich an: „Sandra – kommst Du jetzt auch endlich zum Unterricht!“ Weinend kam ich raus, zog schnell meine Latzi und meinen Elch-Pulli aus und warf beides wütend in die Ecke. Sprintershorts und T-Shirt hatte ich ja wie gewöhnlich unter Latzi und Pulli an, also rannte ich direkt in die Turnhalle.
„Beeil Dich – wir wollen anfangen“, schrie meine Lehrerin mich an. Boar, was war die sauer. Aber ich konnte ja nix dafür. Als ich einlief standen alle auf und sangen „Baby Sandra – Baby Sandra – Baby Sandra!“ So hatte ich meine Klasse noch nie erlebt. War ich mit der Lederhose etwa zu weit gegangen? Offensichtlich wohl schon.
Nach dem Sport gings dann nahtlos weiter: Andrea, die schlechteste in der Klasse und schon einmal sitzen geblieben, rannte als erste wieder in die Umkleidekabine zurück. Sie griff sich meine Lederhose und schrie: „Igitt, wem gehört denn der Müll hier?“ und warf die Latzhose in die Luft. Ein anderes Mädchen fing sie auf und rief „Und kackbraun – iiii – wie schei... Lasst uns Schweinchen spielen!“ Und schon warfen sie meine Lederhose reihum, jede fing sie genau einmal auf, begutachtete sie kurz und war sie dann wieder in die Menge bis die letzte lachte „So, ab in den Müll damit!“ – und warf sie in den Abfalleimer, der zum Glück sauber und leer war. Nur Frauke – die immer wieder vergeblich versuchte, der aufbrachten Mob zu beruhigen, hatte sich nicht an dem Spielchen beteiligt.
„Lass Dich von denen bloß nicht fertig machen, die machen doch nur Spaß. Jeder ist mal drann, ich war’s auch schon. Die haben doch nichts gegen Dich!“
„Ach nee, gegen mich vielleicht nicht – aber gegen meine Lederlatzi!“ sagte ich traurig. „Darf ich die in Deinen Rucksack packen? So geh‘ ich jedenfalls nach der Pause nicht mehr in die Klasse zurück! Und den Pulli auch!.“ Auf einmal schämte ich mich wieder, genau so wie an dem Tag, als wir meine Englisch-Leherein im Supermarkt trafen.“ „Geht in Ordnung“, sagte sie und wir gingen über den Hof in die große Pause.
Aber wenigstens stand Frauke zu mir. „Ich find Deine Latzi cool. „Dann zieh Du sie doch an und blamier Dich vor der Klasse.“ „Würde ich ja gerne, aber weißt Du, warum ich zwischendurch mal auf Toilette musste?“ „Nee, warum denn?“ „Ich musste sie einfach mal anprobieren – ist ja doch rattenscharf das Teil. Nur leider ist sie mir viel zu klein. Das einzige, was die noch toppen kann, ist Deine Reißverschlusslatzi.“ „Du hast sie anprobiert? Und Du würdest die also anziehen, wenn sie Dir passen würde?“ „Na klar!“
Nach der Pause ging ich in T-Shirt und Turnhose in die Klasse zurück. Jubelnder Beifall der gesamten Klasse, sie hatten was sie wollten – mich kleingekriegt. Mich, die sonst nie aufgibt. Die sich nie fertig machen liess, sass plötzlich frierend in der zweiten Reihe.
Wir hatten dann English – meine Englischlehrerin hatte mich morgens schon gesehen und erstaunt zu mir rübergelächelt. Was würde sie wohl gleich im Unterricht sagen, dachte ich. „Ist Dir nicht kalt?“ fragte sie. „Warum hast Du denn Dein Sportzeugs noch an? Und wo ist denn Deine tolle Leder-Latzjeans, die Du heute morgen an hattest, abgeblieben?“
Die Jungs in der Klasse waren ganz still – nur die Mädels kicherten sich einen ab. „Was gibts denn da zu lachen?“ „Och – wir hatten gerade unseren Spaß in der Sportstunde!“ meinte Andrea. „Zu Anfang haben wir gesungen „Zieht der Sandra die Lederhose aus...“ Am Ende der Stunde haben wir mit dem Teil „Schweinchen“ gespielt. Die letzte von uns hat sie dann in den Mülleimer der Umkleiderkabine geworfen. Der war aber ganz sauber... !“ Großes Gelächter.
„Ihr alle?“ fragte meine Lehrerin. „Nee, nicht alle – Frauke wollte uns immer davon abhalten, aber wir haben doch nur Spaß gemacht.“ „Jetzt sag ich Euch mal was“, sagte meine Lehererin böse: „Hier wird keiner wegen seinen Klamotten oder sonst irgendwas anderem gemobbt – ist das klar! So wir ihr manchmal rumlauft, hätte ich meine Tochter niemals auf dem Haus gehen lassen. Aber hab‘ ich Euch deswegen einmal dumm angemacht? Gab’s jemals ‘nen Spruch dafür oder ‘ne schlechte Note? Nein, find ich nicht gut was ihr da mit Sandra macht.“
„Also, drei Dinge: erstens – Ihr entschuldigt Euch jetzt bei Sandra und versprecht Ihr, dass das nie wieder vorkommt und sie zur Schule das anziehen kann, was sie mag ohne dass ihr sie ärgert, zweitens – Sandra, Du ziehst Deine Sachen wieder an und drittens schreiben alle von Euch – mit Ausnahme der Jungs, Sandra und Frauke bis zur nächsten Stunde einen Aufsatz mit Thema „Warum ich meine Mitschüler nicht wegen Ihrer Kleidung mobben darf. Auf Deutsch natürlich, in Englisch sind wir ja noch nicht so weit! Und jede von Euch muss es vorlesen!“
Und was dann kam, damit hatte ich nicht gerechnet: Es standen doch tatsächlich alle nacheinander auf, kamen auf mich zu, entschuldigten sich und machten mir Mut, die Sachen wieder anzuziehen. Eine von ihnen brachte es auf den Punkt: „Wir geben alle viel, viel Geld für Klamotten aus um gut auszusehen, und Du schaffst es immer wieder mit Deinen abgefahrenen Billigklamotten die Du von anderen geschenkt bekommst oder die vom Flohmarkt sind uns zu provoziehen und die Jungs auszuspannen. Da ist uns heute einfach mal die Geduld geplatzt und die Sicherung durchgebrannt! Sorry, kommt nicht wieder vor...“
Geld genug hatten wir zu Hause ja auch, aber viel Geld für teure Klamotten auszugeben war halt nicht mein Stil. Klar gab’s auch manchmal von Mama oder Oma ein sündhaft teures Teil geschenkt. Aber gemocht habe ich diese Sache meist nie – von Ausnahmen mal abgesehen, wie den dünnen, cremefarbigen Cashmere-Pulli, den ich wahnsinnig gerne zur Disco mitanziehe.
Und am Donnerstag vor der Altkleidersammlung hatte ich mich mal wieder getraut, und siehe da, alles friedlich, keine dummen Sprüche und nur die Jungs in meiner Klasse schauten mir hinterher. Ich war sichtlich erleichtert, glücklich und zufrieden. Es war, als hätten sie jetzt meinen Stil endgültig akzeptiert.Wobei ich schon Angst hatte, dass mich jetzt jeder kopiert. Ich wollte nämlich bleiben wie ich bin – einzigartig. Jetzt im Spätherbst werde ich sie wohl wieder regelmässig zur Schule anziehen. Mal sehen, was von den anderen so an neuen Klamotten kommt.
Meine beste Freundin Frauke war es übrigens, die mir in der Situation am meisten Mut gemacht hat. Sie war auch die jenige, die mich überredet hat, sie weiterhin und auch zur Disco anzuziehen. „Dein Klamottengeschmackt ist nun mal sehr provokativ“, meinte sie. „Und das anderen die Mädels mit Ihren teuren Jeans und Markensweatshirts – die sie oft nur zwei, dreimal anziehen, sauer sind, wenn Du ihnen mit Deiner 15,-- Euro Kunstlederlatzi die Show stiehlst, kann ich sogar verstehen! Aber ich bin da genauso wie Du – es kommt doch viel mehr auf die inneren Werte an!“, sagte sie. Und den Spruch sollte ich fortan noch öfters hören.
Die Show stehlen und die Jungs anmachen – nee, da hatte ich ja nun garnicht drann gedacht. Waren die Jungs denn wirklich so scharf auf mich? Einige guckten zwar etwas intensiver, wenn ich meine Reißverschluss-Latzjeans an hatte, aber dem hatte ich nie besondere Bewandtnis zukommen lassen. Und dass die Jungs mich heute morgen unschwärmten fand ich natürlich cool. Aber dass sich einer von denen sich ausgerechnet wegen meiner Klamotten in mich verknallen könnte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen.
In der Disco waren die Erfahrung durchweg positiv – die Mädels aus der Klasse gingen da prizipiell nicht hin, von daher konnte ich mich nochmal wagen, sie dort anzuziehen. Denn die Mädels dort hatten auch alle mehr oder weniger einfache Klamottten an – von wenigen Ausnahmen mal abgesehen.Vor allem waren die alle viel lockerer drauf. Ich mochte meine Latzhosen halt immer noch und ich vor allem möchte sie auch zeigen. Aber nicht deswegen gemobbt werden! Die Jungs jedenfalls waren total begeistert – und erst recht das Mädel, was sie zuvor getragen hatte. Die war richtig glücklich, mich so wiederzusehen.
„Die passt Dir ja richtig gut – ‘nen bissel groß zwar noch, aber sieht toll aus. Ach, und umgekrempelt hast Du sie auch noch, genauso wie ich damals. Ich bin richtig froh, dass Du die genommen hast. Wer weiß, wo sie sonst hin gekommen wäre.“ „Ja, ich find die auch klasse“ sagte ich. „Gab zwar letztens Zoff mit den anderen Mädels in meiner Klasse, weil sie dachten, ich wollte ihnen die Jungs ausspannen – aber hat sich alles wieder beruhigt. Mal sehen, vielleicht ziehe ich sie auch demnächst mal wieder zur Schule an!“
Oder auch im Sortierbetrieb. Was ich dort erlebt hatte, war total beeindruckend für mich. So heftig, dass ich Albträme hatte. Und schließlich bekam ich Gewissensbisse wegen Marks alter Latzjeans. Natürlich hatte Sylvia recht, man hätte sie wirklich niemandem mehr anbieten können. Auch keinem Kind in der Urkaine! Basta, dachte ich und versuchte mich wieder zu beruhigen. Vielleicht hätte ich sie doch wieder mitnehmen oder wenigsten die Schnallen abmachen sollten. Ich weiß nicht. Ach was solls...
Müde vom ganzen Nachdenken schlief ich ein. "Hallo Frauke! ", rief ich. Sie war auf der Tanzfläche in der Disko und hatte eine viel zu kleine dunkelbraune Kunstlederhose an und einen Pulli drüber. Aber weder hörte noch sah sie mich. Und sie tanzte eng umschlungen mit Maurice, einem Jungen aus meiner Klasse, der komischerweise seit ein paar Wochen unbedingt in der Reihe hinter mir sitzen wollte. Ein total süsser Kerl, etwas älter als ich aber super lieb. Aufmerksam und was Klamotten angeht, ähnlich gestrickt wie ich. Das fand ich besonders faszinierend an ihm!
Und dieser Kerl tanze auf einmal mit Frauke, meiner besten Freundin - ich möchte es nicht glauben. Sie hatte sich also meine Kunstleder-Latzhose nur geborgt, um ihn mir auszuspannen. Tolle beste Freundin! Dabei hätte ich doch so gerne... Ich sah, wie Maurice langsam seine Hände unter Frauke's Pulli schob und Frauke ihn leise anhauchte "Was machst Du?" - "Och - öhm, nichts eigentlich. Wollte nur mal schauen, ob das auch eine Latzhose ist, so wie die von Sandra!" "Ach so!", nickte Frauke und beide tanzten eng umschlungen weiter.
Sie tanzten noch den ganzen Abend weiter, er gab' ihr gentlemen-like auch noch 'nen Drink an der Bar aus und nach der Disko liefen beiden Hand in Hand nach Hause. Er brachte sie bis nach Hause und verabschiedete sich von ihr mit einem dicken...
Plötzlich hörte ich laut und deutlich eine Stimme: "Es ist sieben Uhr dreißig - hier ist der Norddeutsche Rundfunk mit den Nachrichten..."